Kinokalender
Mo Di Mi Do Fr Sa So
29 30 1 2 3 4 5
6 7 8 9 10 11 12

12.559 Beiträge zu
3.788 Filmen im Forum

Foto: © Magda Kryjak

Ein ruppiges Meisterwerk

25. März 2014

Szczepan Twardoch verteidigt „Morphin“ auf der lit.Cologne – Literatur in NRW 03/14

„Ein Buch muss sich gut verkaufen“, meint Szczepan Twardoch. Sein Roman „Morphin“ soll dem 35-Jährigen in Polen schon 100.000 Euro eingebracht haben. In den etwa 600 Seiten ist alles enthalten, was man gemeinhin mit einem Erfolgsrezept verbindet. Es gibt ein historisches Ambiente, das hier die erste Phase des Zweiten Weltkriegs in Warschau und Budapest umfasst, viel Gewalt, manchmal krachend, manchmal sadistisch, eine Menge Sex mit Frauen, denen ihre körperlichen Abenteuer keinen Anlass bieten, um sie im Beichtstuhl weiter zu erzählen, und eine Kriminalgeschichte mit politischem Hintergrund. Denn Twardochs Protagonist besitzt eine Doppelidentität als Pole deutscher Herkunft. Zunächst ein Mitläufer, der sich in den Annehmlichkeiten eines vermögenden bürgerlichen Lebens zuhause fühlt, wechselt Leutnant Konstanty Willemann die Seiten und riskiert sein Leben im Widerstand.

Szcepan Twardoch stellte sich im Rahmen der lit.Cologne in der Kulturkirche den ungemütlichen Fragen von Olaf Kühl. Eine Attacke folgte der nächsten. Ob er auf kommerzielle Ziele hin schreibe, ob er die Polen nicht schärfer mit der Kriegsschuld konfrontiere als die Deutschen und ob die Frauen in seinem Buch nicht doch Dämonisierung und Pornografie anheimgegeben würden. Tatsächlich hatten polnische Feministinnen Twardoch vorgeworfen, Frauen nur als willige Gegenstände zu beschreiben. Daraufhin sprang ihm jedoch eine andere feministische Gruppierung zur Seite und erklärte, die Frauen seien die eigentlich handelnden Personen in diesem imposanten Romanfresko. Twardoch erklärt selbst, dass seine Männer „nicht wirklich erwachsen geworden sind“, und der Zorn auf die weiblichen Verführungskünste scheint denn auch einem tiefen Hass auf die übermächtige Mutter entsprungen zu sein. Psychoanalytische Überlegungen sind für ihn Teil seines Opus.

Der Erfolg des Romans in Polen mag verwunderlich sein, weil Twardoch das polnische Offizierskorps der Vorkriegsjahre als eine dekadente und letztlich feige Bande beschreibt. Aber auch in Polen beginnt sich der Blick auf den Krieg und die eigene Rolle deutlich zu verändern. Die Entschlossenheit bis zur Obszönität, mit der er Licht auf nationale Tabus wirft, die fulminante Stimme, mit der er durch die gesellschaftlichen Eingeweide – in denen Katholizismus, Nationalismus und ein allgegenwärtiger Opportunismus das Wort führen – brutal durchpflügt, nötigt Respekt ab. „Morphin“ ist stilistisch voller Unebenheiten und dramaturgischer Ecken und Kanten, aber der Roman besitzt Wucht. Twardoch verfügt über das Stehvermögen eines Autors, der zu fabulieren versteht, dem es gelingt, ein historisches Panorama aufzuspannen und doch in den Details an Tisch und Bett packend und sinnlich Präsenz zu zeigen. Immer will man wissen, was aus Konstanty im Malstrom der Kriegsereignisse und den Quadraturen seiner Frauen wird. Sylvester Groth besaß dafür die Stimme, die Sex und Gewalt wie Filmbilder vor den Augen der Besucher vorbeiziehen ließ. Das Publikum verharrte denn auch gebannt bis in den späteren Abend bei der Lesung. Dass es unterm Strich 100.000 Festivalbesucher waren, die zu den Lesungen strömten, wundert dann nicht mehr.

THOMAS LINDEN

Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.

Neue Kinofilme

Planet der Affen: New Kingdom

Lesen Sie dazu auch:

Persönliche Antwort auf den Schmerz
Bettina Flitner auf der lit.Cologne – Lesung 03/22

Entgrenzende Bröckchen
Sasha Marianna Salzmann mit „Außer sich“ auf der lit.Cologne – Literatur 03/18

Schreibtisch mit Rheinblick
lit.Cologne: Niedecken über das Songschreiben – Musik 03/17

Absurditäten, die Solidarität verlangen
Deutsch-türkische Solidaritätsveranstaltung zur „Freiheit des Wortes“ auf der lit.Cologne – Spezial 03/17

Macht ein Lächeln alles wett?
lit.Cologne-Veranstaltung „Regretting Motherhood“ am 13.3. Comedia Theater – Literatur 03/16

Eine Fotografin wie es noch keine gab
William Boyds Roman „Die Fotografin“ – Literatur 03/16

Opa, was hast du da angestellt?
Zwei Romane schildern, wie Enkel die Schattenseiten der Familiengeschichte lüften – Textwelten 03/16

Schnitt ins Herz
Peter Stamm stellt auf der lit.Cologne einen großen Roman vor – Literatur 03/16

Die Einsamkeit eines Kindes
Michael Köhlmeier auf der lit.Cologne mit einem kleinen, wuchtigen Roman – Literatur 03/16

Erotik im Dom
Die lit.Cologne weiß mit ihrer 16. Auflage zu überraschen – Textwelten 01/16

Süße Liebe und ekelerregende Gemeinheit
Peggy Parnass kommt zur lit.kid.Cologne – Literatur in NRW 03/15

Amerikaner am Rhein
Die lit.Cologne verspricht ein starkes Programm – Textwelten 03/15

Literatur.

Hier erscheint die Aufforderung!