choices: Herr Fussek, wo beginnt in der Altenpflege der Missbrauch?
Claus Fussek: Nach den Kriterien von Amnesty International würden viele Missstände in Pflegeheimen als Folter gelten, z. B. beim Schlafentzug. In vielen Heimen werden Bewohner regelmäßig nachts geweckt, wenn sie z. B. ein Zimmer teilen müssen oder durch unruhige Bewohner. Dauerkatheter oder Magensonden als „pflegeerleichternde Maßnahmen“ stellen eine Körperverletzung dar. Und in deutschen Pflegeheimen sind 140.000 Menschen täglich fixiert. Der Missbrauch ist alltäglich. Strafgefangene haben vollkommen zu Recht eine Stunde Hofgang täglich, bei alten, pflegebedürftigen Menschen fällt dieser häufig aus, weil das Personal dafür keine Zeit hat.
Was sind die Ursachen von Missbrauch in der Pflege?
Die Probleme sind seit zehn, zwanzig Jahren dieselben. Sie resultieren vor allem aus einer mangelhaften personellen Besetzung. Es fehlt die notwendige Zeit, um den pflegebedürftigen Menschen Essen und Trinken zu reichen, oder um mit ihnen zur Toilette zu gehen. Gleichzeitig wissen alle über die Situation Bescheid, aber ändern nichts. Die Pflegeszene erfreut sich eines Zertifizierungswahnsinns, der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) verteilt Bestnoten, und viele Träger verkünden stolz eine „100prozentige Kundenzufriedenheit“.
Schützt die Pflege durch Angehörige vor Missbrauch?
Das kann man nicht einfach beantworten. Wichtig ist ein funktionierendes Frühwarnsystem, das verhindert, dass Menschen alleine sind – egal ob in ihrer Wohnung oder im Heim. Deshalb müsste es sogenannte Kümmerer geben, die regelmäßig nach Menschen schauen. Wir brauchen mehr Zivilcourage.
Was kann das Pflegepersonal tun, um die Situation zu verbessern?
Esmuss sich mit anderen Berufsgruppen zusammentun. Es muss ehrlich sein und nicht den Mund halten oder die Situation beschönigen, wenn der MDK oder ein Politiker zu Besuch kommen. Gleichzeitig sollte es nur die Arbeit dokumentieren, die es auch wirklich leisten kann. Würden die Pflegekräfte vor Ort sich mit Angehörigen, Hausärzten und weiteren Beteiligten solidarisieren, könnten sie viel bewegen. Aber die Mutigen werden leider häufig gemobbt. Eine Krankenpflegerin, die sich an mich wandte, wurde vor ihren Kollegen von der Heimleitung niedergemacht.
Was würden Sie den Angehörigen raten?
Man kann sich leicht informieren. Wichtig ist die Mund-zu Mund-Propaganda, und dass man sich vor Ort erkundigt. Dennoch kann es kein Pflegeheim ohne Mängel geben. Entscheidend für eine gute Einrichtung ist, wie mit Fehlern und Beschwerden umgegangen wird. Angehörige sollten ihre Pflegebedürftigen aus den schlechten Heimen herausnehmen. Solange diese nicht vom Markt verschwinden, werden auch die guten Heime – ebenso wie beim Doping im Radsport – unter Generalverdacht stehen. Wir müssen die Pflegebranche spalten.
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