Der Fußballfan ist im Allgemeinen auch Statistiker. Frei nach Nick Hornby: Wo andere Leute Meinungen haben, hat er Listen. Und die sagen ihm, dass es in dieser Bundesligasaison voraussichtlich einen Zieleinlauf geben wird, den wir vor genau neun Jahren schon einmal hatten: Borussia Dortmund vor Bayer Leverkusen und Bayern München.
2001/2002 hatte Bayer Leverkusen nahezu die gesamte Saison über dominiert und einen ausnehmend schönen und spektakulären Stil gespielt. Dafür sorgte vor allem das extrem offensiv ausgerichtete Mittelfeld mit Ballack, Schneider, Zé Roberto und Bastürk sowie Offensiv-Verteidiger Lucio. Erzielte einer von ihnen die Treffer nicht selbst, standen vorne auch noch die nominellen Stürmer Kirsten und Neuville zum Tore schießen bereit. Und wenn mal ein Spiel nicht so ansehnlich geriet, musste meist der arme (und unterbewertete) defensive Mittelfeldspieler Ramelow als Watschenmann herhalten.
In jener Saison festigten die Leverkusener endgültig ihren Ruf als ewiger Zweiter. Nach drei Vizemeisterschaften hinter den Bayern 1997, 1999 und 2000 ließen sie diese 2002 zwar hinter sich, mussten aber am Ende Dortmund passieren lassen, weil sie wieder einmal in den entscheidenden Momenten an ihren Nerven gescheitert waren und einen scheinbar sicheren Punktvorsprung hergegeben hatten. Nicht genug damit, verloren sie auch noch die Endspiele um DFB-Pokal und Champions League. Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, machten sich fünf Leverkusener nach dem nächsten verlorenen Endspiel bei der anschließenden WM zu Vierfach-Vizes oder kurz Vivis. Immerhin einer – der Brasilianer Lucio – kam als Weltmeister zurück. (Und wem wurde anschließend zumindest eine Teilschuld am Führungstreffer der Brasilianer gegeben? Richtig, Ramelow)
Vizekusen war geboren, und wer den Schaden hat, sorgt für den Spott gleich selbst, dann tut‘s nicht ganz so weh. Eine Leverkusener Fan-Initiative startete eine Webseite mit dem Titel „Bayer 04: der ewige Zweite. Wir stehen zu Dir“. Dort findet man übrigens auch Lexikoneinträge der ganz speziellen Art. Sie stammen von der Dortmunder Fanseite borsigplatz.de. Danach bedeutet das Verb ‚leverkusen‘ verlieren, im entscheidenden Moment versagen, sich lächerlich machen, während das Substantiv ‚Leverkuser‘ für Verlierer, Versager, Witzfigur, Jammerlappen, brotloser Künstler steht.
Doch nun gibt es begründete Hoffnung für Bayer, die Schmach zu tilgen. 2010/2011 hat Borussia Dortmund nahezu die gesamte Saison über dominiert und einen ausnehmend schönen und spektakulären Stil gespielt. Sechs Runden vor Abschluss führt die Mannschaft mit einem scheinbar sicheren Punktvorsprung … da klingelt es beim ausgewiesenen Fußball-Statistiker. Was, wenn sich die Geschichte aus der Spielzeit 2001/2002 in dieser Saison mit umgekehrt verteilten Rollen wiederholte und Dortmund am Ende noch von Leverkusen überholt würde?
Nicht nur der statistische Aberglaube spricht eindeutig für Bayer. Fußballexperten stützen ihre Analysen und Prognosen darüber hinaus auch gerne auf Parallelen zwischen dem Fußball und den Entwicklungen in Politik und Gesellschaft. Und demzufolge hat Bayer das historische „momentum“ eindeutig auf seiner Seite. In Ägypten und Tunesien werden Diktatoren gestürzt, in Deutschland Atomkraftwerke abgeschaltet und in einem Bundesland eine Regierungspartei nach 58 Jahren abgewählt, an deren Stelle demnächst eine Koalition unter einem grünen Ministerpräsidenten treten dürfte … wann, wenn nicht in einem Jahr wie 2011, in dem quasi am Stück lauter bislang undenkbare Dinge geschehen und die versammelten Loser dieser Welt auf einmal alle gewinnen, soll Bayer Leverkusen Deutscher Fußballmeister werden?
Gut, in Köln würde man das weniger lustig finden. Aber beim ehemaligen Vier-Minuten-Meister Schalke 04 schon. Und sollten die Schalker dann auch noch DFB-Pokal und Champions League gewinnen, wäre der historische Kreis endgültig geschlossen, und wir könnten 2011 zum Jahr des siegreichen Underdogs ausrufen. Nicht auszudenken, was das wiederum im Umkehrschluss für die Politik bedeuten würde. Am Ende kommt es im Herbst noch zu vorgezogenen Neuwahlen des Bundestages, aus denen die Satire-Truppe „Die PARTEI“ mit einer absoluten Mehrheit hervorgeht.
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