Heute würde man sagen, sie waren eine Gang. Die offene Konfrontation mit der Gesellschaft, die für sie aus Duckmäusern bestand, suchten sie. In ihren Kleidern und ihrer Sprache demonstrierten sie ihr unverkennbares Anderssein. Den Namen „Edelweißpiraten“ hat man ihnen erst später gegeben. Ideologie und Politik interessierten die jungen Leute, die den Nazis offen die Stirn boten, nicht im Mindesten. Aber ihre Naivität bezahlten sie mit Folter und Tod. An der Bahnunterführung in Köln-Ehrenfeld findet man ihre Geschichte auf die Wände gemalt, dort, wo man einige von ihnen vor etwa 70 Jahren erhängte. Jetzt gibt es ein Theaterstück, das ihre Geschichte erzählt.
Mit dem letzten Bild gleicht darin die Bühne der Comedia einem Schlachtfeld. Tatsächlich ist eine Schlacht geschlagen worden, nachdem im ersten Bild fünf Jungs im schwarzen Anzug die Bühne betraten. Sie (Klaus Schweizer, Klaus Wildermuth, Klaus Prangenberg, Adrian Ils und Thomas Fehlen) sind zum Teil über 50 Jahre alt und sehen wie schmucke Gangster aus, spielen aber Teenager, denn die „Edelweißpiraten“ in Köln waren zunächst 13- und 14-Jährige, die 1941 vom Drill der Hitlerjugend genug hatten. Ein wenig erinnert die schrille Musik und der Mut, mit dem man das übermächtige System provozierte, an die heutigen Auftritte von Pussy Riot.
Viele Anregungen aus Vergangenheit und Gegenwart sind in die Produktion unter der Regie von Christopher Haninger eingeflossen. „Banden bilden gegen Hitler“ lautet der Untertitel zum Text von Dirk Reinhardt. Darin ist der eigenwillige Protest der Jugendlichen angedeutet, die rund um den Neptunplatz in Ehrenfeld trotzig, tollkühn, verspielt und furchtlos gegenüber dem nationalsozialistischen Regime auftraten. Es gab eben keinen organisierten Widerstand gegen das System, daher fielen auch die Aktionen der Jugendlichen spontan und wenig durchdacht aus. Im Stück fällt viel historischer Hintergrund an, der transportiert werden muss und nicht immer in handlungsstarke Aktionen verwandelt werden kann.
Mit Witz spult sich die Entstehung der Bande ab, die zunächst harmlose Pfingstausflüge unternimmt. Klaus Schweizer agiert als Erzähler, der mit Volldampf zum Publikum spricht. Dann werden die aufmüpfigen Kids geschnappt und landen ein ums andere Mal im EL-DE-Haus, dem Kölner Gestapogefängnis. Die Folterungen werden nachgestellt, und die Verlassenheit und die Angst der Gefangenen kann man sich gut vorstellen. Diese Szenen gehören zu den eindringlichsten Momenten der Inszenierung. Dass die Inszenierung trotz ihrer Materialfülle nicht auseinanderbricht, liegt an den fünf gestandenen Darstellern. Jeder ein cooler Typ, jeder mit eigener Körpersprache, und es zeigt sich, dass die Entscheidung, junge Spunde von alten Knaben spielen zu lassen, ein Volltreffer war. Denn was der Produktion an dramaturgischer Finesse fehlt, gleichen die Darsteller mit ihrem intensiven Spiel mehr als aus. Die „Edelweißpiraten“, jene Helden von gestern, werden wieder herangerückt an den Horizont unserer Vorstellung. Dabei entsteht eine Produktion, die viel Potenzial für eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus bietet.
„Die Edelweisspiraten“ | R: Christopher Haninger | 22.5. 11.00 u. 19.00, 23.5., 31.5. je 19.00 | Comedia | Tel. 0221 888 77 222
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