„Deutsche Erstausgabe“ steht in dem soeben erschienenen Band 1549 der Bibliothek Suhrkamp. Es handelt sich um Annie Ernaux Text „Die leeren Schränke“, den die Französin 1974 veröffentlichte. Wieso kommt dieses Buch erst 50 Jahre nach seinem Erscheinen zu uns nach Deutschland? Wie gut hätte es getan, diesen Roman in den 1970er Jahren zur Hand zu haben, als in Deutschland Autorinnen wie Christa Wolf, Verena Stefan oder Karin Struck unter dem unsäglichen Begriff der sogenannten Frauenliteratur firmierten.
„Die leeren Schränke“ waren der Debütroman der damals 34-Jährigen. Um einen Roman handelt es sich nur deshalb, weil Annie Ernaux der Protagonistin den Namen Denise Lesur gab. Wir wissen heute, dass alles, wovon sie erzählt, aus ihrer eigenen Erfahrung besteht. Der Stoff ist der gleiche wie der, der uns aus den Bänden „Die Scham“, „Das andere Mädchen“ oder dem verfilmten Text „Das Ereignis“ bekannt ist. Letzterer beschreibt das traumatische Erlebnis einer Abtreibung als 20-Jährige und mit ihm beginnt auch das Debüt. Denise liegt auf ihrem Bett und wartet darauf, dass die schmerzhaften Anwendungen der Engelmacherin wirken. Dabei läuft der Film ihres bisherigen Lebens ab. Die Kindheit in der Kleinstadt, der Überlebenskampf der Eltern in ihrem Kramladen, die ersten sexuellen Erlebnisse und die Beziehung mit einem Kommilitonen aus wohlhabender Familie, der sich sofort von ihr trennt, als er von der Schwangerschaft erfährt.
Alle Sujets des späteren Werks der letztjährigen Nobelpreisträgerin sind hier schon vorhanden. Allerdings ist der Ton ein anderer. Die kristalline Klarheit ihrer Sprache erwirbt sie erst später. Dieses Debüt klingt ruppiger, oftmals zornig und verhehlt nicht den Hass auf die kleinbürgerliche Welt ihrer Herkunft, der in der jungen Frau lodert. Das Klassenbewusstsein der Denise Lesur erklärt uns hellsichtig den Hass, der heute unsere Gesellschaften vergiftet. Der Wucht und Sprachmacht, mit der Annie Ernaux Sexualität, weibliche Lust und die subtile wie die offene Unterdrückung der Frauen beschreibt, ist in der Deutschen Literatur der 1970er Jahre nichts an die Seite zu stellen.
Annie Ernaux: Die leeren Schränke | Aus dem Französischen von Sonja Finck | Suhrkamp | 220 S. | 23 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Kindheit zwischen Buchseiten
„Die kleinen Bücher der kleinen Brontës“ von Sara O’Leary und Briony May Smith – Vorlesung 05/24
Sprachen der Liebe
„So sagt man: Ich liebe dich“ von Marilyn Singer und Alette Straathof – Vorlesung 02/24
Reichtum und Vielfalt
„Stärker als Wut“ von Stefanie Lohaus – Klartext 12/23
Die Umweltschutzuhr tickt
„Der Wald ohne Bäume“ von Jeanne Lohff – Vorlesung 12/23
Nahrhafte Lektüre
„Das Alphabet bis S“ von Navid Kermani – Textwelten 11/23
Roman zur Zeit
„Taormina“ von Yves Ravey – Textwelten 09/23
Ein Zirkus für alle
„Adam und seine Tuba“ von Žiga X Gombač – Vorlesung 08/23
Frauen, die die Welt veränderten
„Little Leaders – Mutige Frauen der Schwarzen Geschichte“ von Vashti Harrison – Vorlesung 08/23
Berufe von A bis Z
„Ich werde mal“ von Alla Hutnichenko – Vorlesung 06/23
Gemeinsame Schritte
„Du“ von Andrea Langenbacher – Vorlesung 05/23
Nordische Sagen für Kinder
Matt Ralphs’ aktuelles Sachbuch „Nordische Mythen“ – Vorlesung 03/23
Surren, Summen, Brummen
„Der große Schwarm“ von Kirsten Traynor – Vorlesung 03/23
Vom Arbeiterkind zum Autor
Martin Becker liest im Literaturhaus aus „Die Arbeiter“ – Lesung 04/24
Grenzen überwinden
„Frieda, Nikki und die Grenzkuh“ von Uticha Marmon – Vorlesung 04/24
Female (Comic-)Future
Comics mit widerspenstigen Frauenfiguren – ComicKultur 04/24
Erwachsen werden
„Paare: Eine Liebesgeschichte“ von Maggie Millner – Textwelten 04/24
Wortspielspaß und Sprachsensibilität
Rebecca Guggers und Simon Röthlisbergers „Der Wortschatz“ – Vorlesung 03/24
Lebensfreunde wiederfinden
„Ich mach dich froh!“ von Corrinne Averiss und Isabelle Follath – Vorlesung 03/24
Das alles ist uns ganz nah
„Spur und Abweg“ von Kurt Tallert – Textwelten 03/24
Spurensuche
Comics zwischen Wirklichkeit, Fantasie und Spektakel – ComicKultur 03/24
Wut ist gut
„Warum ich Feministin bin“ von Chimamanda Ngozi Adichie – Vorlesung 03/24
Unschuldig bis zum Beweis der Schuld
„Der war’s“ von Juli Zeh und Elisa Hoven – Vorlesung 02/24
Das Drama der Frau um die 50
„So wie du mich willst“ von Camille Laurens – Textwelten 02/24
Gertrude, Celeste und all die anderen
Progressive Frauen in Comics – ComicKultur 02/24