choices: Herr Professor Lauterbach, warum tickt die Mehrheit im Parlament in der Frage des selbstbestimmten Sterbens eigentlich so komplett anders als die große Mehrheit der Bevölkerung?
Prof. Karl Lauterbach: Im Bundestag gehen die Meinungen weit auseinander. Fraktionsübergreifend gibt es fünf Positionen zum Thema „Sterbebegleitung". Ich sehe da noch keine klaren Mehrheiten. Ebenso wenig wie in der Bevölkerung. In der Bevölkerung gibt es derzeit vielleicht eine Mehrheit für Erleichterungen bei der assistierten Selbsttötung. Nicht aber dafür, wie diese Erleichterungen konkret aussehen sollen. Und noch zu Beginn des Jahres fühlte sich die Mehrheit der Bevölkerung nicht gut über die derzeit gültigen Regeln informiert.
Mit Bundestagsvizepräsident Peter Hintze (CDU) scheren Sie aus der Großen Koalition mit einem eigenen Vorschlag für den assistierten Freitod aus.
Die Frage ist: Darf der Arzt Patienten dabei helfen, ihr Leben selbst zu beenden? Allen Positionen, die derzeit diskutiert werden, ist gemein, dass sie Hilfe des Arztes in Einzelfällen erlauben wollen. Aber unser Antrag ist der einzige, der das sicherstellt. Voraussetzung ist, dass eine unheilbare Erkrankung unumkehrbar zum Tod führt, der Patient objektiv schwer leidet und eine umfassende Beratung des Patienten etwa über palliative Behandlungsmöglichkeiten stattgefunden hat. Außerdem muss die ärztliche Diagnose von einem anderen Arzt bestätigt werden. Zum Schutz der Patienten halten wir es außerdem für richtig, die Tätigkeit von Sterbehilfeorganisationen und Einzelpersonen, die eine regelmäßige Sterbehilfe anbieten, zu untersagen.
Nun ist die Beihilfe zum Freitod keine Straftat. Warum braucht es überhaupt eine gesetzliche Regelung?
In Deutschland bleibt die Hilfestellung zum Suizid straflos. Einige Ärztekammern untersagen aber jede Form der Hilfestellung zum selbstvollzogenen Freitod der Patienten. Es geht also darum, Rechtssicherheit für Ärzte zu schaffen. Eine Regulierung durch das Strafrecht ist aber nicht sinnvoll. Eine zivilrechtliche Regelung im Bürgerlichen Gesetzbuch im Umfeld der Regelungen zur Patientenverfügung ist daher der richtige Weg.
Ärzte können doch auch heute schon beim Freitod assistieren. Warum also ein Gesetz?
Alle anderen diskutierten Anträge lösen nicht das Problem, dass die Beihilfe zum Suizid in zehn Ärztekammern derzeit unter Androhung des Verlustes der Approbation schlicht nicht erlaubt ist. Wenn wir die organisierte Sterbehilfe wirklich verbieten wollen, was ich für richtig halte, dann müssen wir Rechtssicherheit für Ärzte schaffen. Diese Rechtssicherheit schulden wir der kleinen Gruppe von Patienten, die sonst ohne jede Alternative wäre.
Könnten die Ärzte das nicht auch selbst regeln?
Es gibt zwei Gründe, die dagegen sprechen: Zum einen wollen wichtige Ärztefunktionäre das schlicht nicht. Und zum anderen ist das aus meiner Sicht nichts, was die Ärzteschaft entscheiden sollte, weil es sich um eine grundsätzliche Werteentscheidung für unsere Gesellschaft handelt. Das muss der Deutsche Bundestag entscheiden.
Stichwort „organisierte Sterbehilfe": Warum sollen Patienten nicht auf Sterbehilfevereine zurückgreifen dürfen?
Die Mitarbeiter der entsprechenden Organisationen kennen oft weder die Betroffenen noch deren Krankheiten. Sie reisen an und „helfen" in einer Situation, in der der Tod oft noch vermeidbar wäre, wie bei Depressiven oder psychisch Kranken. Viele dieser betroffenen Menschen waren wahrscheinlich depressiv und hätten von Ärzten gerettet werden können. Von daher können wir es nicht so lassen, wie es ist, sondern wir müssen die Sterbehilfe durch „Seriensterbehelfer" unterbinden.
Auf der anderen Seite sieht der Vorschlag von Gesundheitsminister Gröhe (CDU) ein Verbot der Sterbehilfe vor, setzt dem aber eine flächendeckende Einführung der Palliativmedizin entgegen. Erübrigt sich damit nicht ein Gesetz zur Sterbehilfe?
Es ist richtig, dass wir mehr für eine bessere Palliativmedizin in Deutschland tun müssen. Herr Gröhe und die Kollegen aus der Großen Koalition haben ein Konzept erarbeitet, das sicher an der einen oder anderen Stelle noch geändert wird. Es gibt aber Menschen, die auch im Lichte aller Angebote der Palliativmedizin ihr eigenes Leben und den bevorstehenden Tod nicht als würdevoll empfinden; sie selbst empfinden es so und niemandem von außen steht es zu, darüber zu urteilen. Diese kleine Gruppe von Menschen ist auf unsere Hilfe angewiesen. Die Frage ist: Was können wir anbieten?
Muss zum Angebot nicht auch flankierend eine verstärkte Suizidvorbeugung gehören?
Auf jeden Fall. Dazu gehört insbesondere die bessere Erkennung und Behandlung von Depressionen bei älteren Menschen.
Der Altersfreitod ist mittlerweile in der Schweiz ein Thema. Wird – auch mit Ihrem Vorschlag – nicht auch hier der nächsten Debatte Tür und Tor geöffnet?
Nein, unser Vorschlag ist an klare Voraussetzungen gebunden, die einen assistierten Altersfreitod nicht zulassen.
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