In der Dokumentation „Das dunkle Gen“, die in diesem Monat anläuft, prophezeit ein ethisch anfechtbarer US-Forscher: Künftig wird man durch Injektion jugendlichen Genmaterials einen gealterten Menschen verjüngen können. Was sich auf Erden – unter Vorbehalt – als durchführbar abzeichnet, ist auf der Kinoleinwand längst Realität. Dort verjüngt man sich, indem man den Körper wechselt („17 Again“, „Endlich wieder 18“, „30 über Nacht“), man wird unsterblich, indem man sich ein Elixier zuführt („Der Tod steht ihr gut“) oder indem man schlichtweg untot ist, ob als Zombie, Highlander, Nosferatu oder Elb.
Dabei ist ewiges Leben mitnichten bloß von Vorteil. Das wusste 1987 schon Wim Wenders mit „Der Himmel über Berlin“, in welchem der Tod zur Sehnsucht eines unsterblichen Engels erwächst. Auch in den kommenden Sommermonaten wägt das Kino derlei Überlegungen variantenreich ab. Da lernen wir Adaline kennen („Für immer Adaline“), die seit 70 Jahren 29 Jahre alt ist. Der Gewinn an Lebenszeit zwingt sie zugleich schon bald zu einer unglückseligen Entscheidung: Sie verwehrt sich jeglicher emotionalen Bindung. Der Berührung. Der Freundschaft. Der Liebe. So wandelt sich die Gunst der Unsterblichkeit mitunter auch gerne mal zum Fluch. Ben Kingsley (72) sucht diesen Makel im August zu umgehen, indem er den Körpertausch sucht und in Ryan Reynolds (39) schlüpft („Selfless“). Nur hat sich der alte Mann für seinen Seelen-Switch bedauerlicherweise den Falschen ausgesucht. Oder stellen Sie sich vor, Sie sind ein Vampir. Und jetzt stellen Sie sich vor, Sie sind ein Vampir und verheiratet. So wie demnächst Tobias Moretti in „Therapie für einen Vampir“. Was, wenn der Tod die Vermählten auf Gedeih und Verderb niemals scheiden will? Da hilft nur noch… der Therapeut. Regisseur Noah Baumbach („Frances Ha“) nähert sich dem Anti-Aging indessen ganz unfantastisch. In seinem Drama „Gefühlt Mitte Zwanzig“ sucht ein Paar Mitte 40 die Verjüngung ganz geerdet in der Freundschaft zu einem ungleich jüngeren Pärchen. Gepfiffen auf Botox, Genforschung und Sci-Fi-Schnickschnack. Am Ende reicht es vielleicht einfach, sich gelegentlich mal wieder bloß jung zu fühlen. Und zum angemessenen Zeitpunkt schlichtweg alt. Denn was fern der 60 noch so alles geht, auch davon erzählt die Leinwand genreübergreifend: Ob in dem amerikanischen Todkrank-but-Feel-Good-Drama „Das Beste kommt zum Schluss“, im „Best Exotic Marigold Hotel“, auf „Wolke 9“, in Senioren-Actionern wie „The Expendables“ und „R.E.D.“ oder aktuell in der Doku „Parcours d’Amour“, in der sich greise Singles ganz lebensnah tänzelnd annähern.
Genres schöpfen Grenzen aus. Es ist erfrischend, wie das Kino ein und denselben Gedanken neu durchspielt. Und wir selbst? Wir verlassen das Kino mitunter mit dem breiten Grinsen eines 15-Jährigen. Ein andermal verwirrt. Inspiriert. Erotisiert. Oder mit der Vorstellung, unsterblich zu sein. Mit einem Lebensgefühl. Für fünf Minuten. Für einen Tag. Für eine Nacht. Und manchmal gar für ewig.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Show halt
Die Sache mit dem Oscar – Vorspann 04/24
Schöne Aussichten im Kino
Der Festivalauftakt in Berlin verspricht ein gutes Filmjahr – Vorspann 03/24
Krieg auf der Leinwand
Wenn Film über die Front erzählt – Vorspann 02/24
Neue Wege gehen
Starke Persönlichkeiten im Kino – Vorspann 01/24
Filmpolitik im Umbruch
Hoffnung auf Neuregelung und Sorge vor Sparzwang – Vorspann 12/23
Populistische Projektionsfläche
Über zwei befremdliche Filmpräsentationen – Vorspann 11/23
Leinwand als Bildungsort
Ein Monat voller Kunst, Kultur und Geschichte – Vorspann 10/23
Mit vollen Häusern in den Kinoherbst
Keine Langeweile im Kino dank „Barbenheimer“ – Vorspann 09/23
Streik!
Arbeitsstopp in der Schreibergilde – Vorspann 08/23
Auf nach überall
Urlaubsgefühle im Kino – Vorspann 07/23
Filmpreis mit Geschmäckle
Deutscher Filmpreis vor der überfälligen Reformierung – Vorspann 06/23
Genrefizierung
Ausformungen der Filmkategorisierung – Vorspann 05/23
Mehr als „Malen-nach-Zahlen-Feminismus“
„Ellbogen“ im Filmpalast – Foyer 04/24
Sichtbarkeit vor und hinter der Leinwand
Das IFFF fordert Gleichberechtigung in der Filmbranche – Festival 04/24
Gegen die Marginalisierung weiblicher Körper
„Notre Corps“ im Filmforum – Foyer 04/24
„Ich mag realistische Komödien lieber“
Josef Hader über „Andrea lässt sich scheiden“ – Roter Teppich 04/24
„Paradigmenwechsel im Mensch-Natur-Verhältnis“
Mirjam Leuze zum LaDOC-Werkstattgespräch mit Kamerafrau Magda Kowalcyk („Cow“) – Foyer 03/24
„Alles ist heute deutlich komplizierter geworden“
Julien Hervé über „Oh la la – Wer ahnt denn sowas?“ – Gespräch zum Film 03/24
„Kafka empfand für Dora eine große Bewunderung“
Henriette Confurius über „Die Herrlichkeit des Lebens“ – Roter Teppich 03/24
Bären für NRW-Filme?
21. NRW-Empfang im Rahmen der 74. Berlinale – Foyer 02/24
Sterben
Start: 25.4.2024
Zwischen uns das Leben
Start: 1.5.2024
Der Junge, dem die Welt gehört
Start: 2.5.2024