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Der junge Wilhelm Brasse vor dem II. Weltkrieg, Fotograf unbekannt

Scham und Stolz

29. Januar 2015

Erinnerungshilfen für patriotische Europäer – Textwelten 02/15

Das Erschrecken über den Zuwachs der Pegida-Demonstranten ist ein Erschrecken darüber, dass der Anteil des Mittelstands an den Aktionen zunimmt. Wie kann man mit Neonazis gemeinsam auf die Straße gehen? Dabei ist die Mehrheit der Pegida-Marschierer nicht gewaltbereit und durchaus gebildet, also potenziell zugänglich für Argumente. Das vordringliche Ziel der Bewegung soll doch die Verteidigung der Werte sein, für die das Abendland steht, und das können ja nur humanistische sein. Deshalb ist es auch sinnvoll, sich zu erinnern, dass diese Werte einmal mit den Stiefeln derer zertreten wurden, die das Hakenkreuz tragen. Ausgezeichneten Geschichtsunterricht bieten jetzt zwei Bücher, in denen man Nachhilfe-Unterricht bekommen kann, um Antworten auf die Frage zu erhalten: Worauf kann ich als Deutscher stolz sein und wofür muss ich mich schämen?

Praktisch, dass es einen Titel für Jugendliche und einen für Erwachsene gibt, gemeinsam ist ihnen das Sujet: Die Biographie von Wilhelm Brasse. Er war „Der Fotograf von Auschwitz“. Alle 50.000 Häftlingsporträts stammen von ihm. Sein Leben erzählt sich wie das Porträt eines unscheinbaren Menschen, der nicht zum Helden geboren war und trotzdem demonstrierte, dass Werte auch in der Hölle Gültigkeit besitzen. Brasse wuchs als Sohn einer Polin und eines Österreichers auf. Er wird als einer der ersten Häftlinge nach Auschwitz deportiert. Die SS erfährt schnell, dass Brasse ausgebildeter Fotograf ist. Bis zum Januar 1945 arbeitet er mit einem Stab von Helfern, denen er wie sich selbst das Überleben durch seine handwerkliche Nützlichkeit sichern kann. Er muss auch die Opfer von Josef Mengeles „Experimenten“ fotografieren, eine Arbeit, die ihn so traumatisiert, dass er nach dem Kriege keine Kamera mehr in die Hand nehmen kann.

Reiner Engelmann hat mit Brasse, der im Herbst 2012 starb, zahlreiche Gespräche geführt und das Material in einem Jugend-Sachbuch klar und unpathetisch verarbeitet. Man erfährt, welchen Geistes die Deutsche Verwaltung des Lagers war, ein Umstand, der für Jugendliche von großer Bedeutung ist, um mit dem Thema arbeiten zu können. Engelmann findet auf angenehm zurückhaltende Weise immer den richtigen Ton für die mörderischen Geschehnisse.

Auch die beiden italienischen Historiker Luca Crippa und Maurizio Onnis lernten Brasse noch kennen. Ihr Text liest sich wie ein dramatischer Roman, sie versetzen sich in die Perspektive des Fotografen. Wie geht man damit um, von Mengele für tadellose Arbeit gelobt zu werden? Bei Crippa und Onnis schießt die Dramatik des Lagerlebens ein, die ständige Bedrohung und den Sadismus. Hier erfährt man viel über konkrete Ereignisse, wenn der Wechsel von der Dokumentation zum realistischen Erzählen auch die Grenzen des Sachbuchs überschreitet. Zwei gelungene Versuche, die den institutionalisierten Hass gegen alles Fremde genau beschreiben und zugleich einen scharfen Blick für Würde und Respekt demonstrieren.

Reiner Engelmann: „Der Fotograf von Auschwitz“ | cbj | 192 S. | 14,99 €

Luca Crippa / Maurizio Onnis: „Wilhelm Brasse. Der Fotograf von Auschwitz | Übersetzung: Bruno Genzler | Blessing | 336 S. | 19,99 €

THOMAS LINDEN

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