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Die rote Ampel: ein Ort morgendlicher Kontemplation
Foto: Jon Witte

„Paradox eines rasenden Stillstands“

30. Januar 2014

Matthias Bickenbach und Michael Stolzke über den Autounfall als Kulturevent – Thema 02/14 Mobilität

choices: Herr Bickenbach und Herr Stolzke, das Image des Automobils heute schwankt zwischen dem Stau in der Stadt und hohem Speed in menschenleeren Wüsten.
Matthias Bickenbach (MB):
Das Image des Autos selbst prägen nach wie vor Eleganz, Kraft und Komfort. Die Bilder von Stillstand und Raserei entsprechen vielmehr unseren automobilen Angst- und Wunschvorstellungen.
Michael Stolzke
(MS): Das Auto ermöglicht das Paradox eines „rasenden Stillstands“. Der Stau als Gegenbild zum Ideal der freien Fahrt für freie Bürger weckt latente Aggressionen.

Ein Autounfall soll der „reinen Gewalt der Geschwindigkeit“ geschuldet sein, doch auch im Stau droht Gefahr?

Dr. Matthias Bickenbach
Foto:privat
Zur Person: Dr. Matthias Bickenbach ist apl. Prof. für neuere deutsche Literatur und Medien an der Universität zu Köln.

MS: Im Stau spielt die Frustration natürlich eine große Rolle. Die verweigerte Geschwindigkeit provoziert und bringt so „Drängler“ und „Spurwechsler“ hervor.
MB:
Das Gefährlichste am Stau ist das Stauende. Schon bei einem Aufprall von 30 km/h können sich menschliche Arme nicht mehr abstützen. „Unsafe at any speed“ war der Titel eines Buches, das in den USA zur Einführung des Tempolimits beigetragen hat.

Was ist typisch an einem Autounfall?
MS:
Der Unfall ist eine notwendige Folge des Autofahrens. Er steht für die Gefahr, dass sich die entfesselte, lineare Geschwindigkeit an realen Hindernissen oder den Grenzen derPhysik bricht. Paul Virilio spricht anschaulich von einem „Schiffbruch der Geschwindigkeit“ – alles in allem ein wesentlicher Beitrag zum Verkehrsinfarkt.
MB:
Man kann Unfalltypen danach unterscheiden, ob der Wagen frontal oder seitlich versetzt auf Hindernisse trifft, oder ob er von selbst zu schleudern beginnt und sich überschlägt. Auf Fotos kann man den jeweiligen Typ und die Zerstörung sehr genau studieren. Der Unfall durchbricht auch unsere Normalität. Das macht ihn zu einem geradezu erkenntnistheoretischen Objekt.

Im Ergebnis entsteht Schrott. Auch etwas Ambivalentes: einerseits Abfall, andererseits Rohstoff?
MS:
Schrott bedeutet ursprünglich ja „abgeschnittenes Stück von etwas“. Aber es geht nicht nur um den Materialwert, der recycelt wird. Auch menschliche Opfer und deren Unfallfolgen, also Verletzungen und Traumata, sind ganz wörtlich „Schrott“. Nur, dieser „Endzustand“ ist kulturell und ökonomisch das Produkt eines Systems von Kreisläufen.

​Michael Stolzke
Foto: privat
Michael Stolzke ist Managing Partner der Agentur SchwertnerStormDeFries in Köln und Mitherausgeber des Online-Magazins „Tartuffel“ (www.tartuffel.de). „Die Geschwindigkeitsfabrik. Eine fragmentarische Kulturgeschichte des Autounfalls“ erscheint im März 2014 im Kadmos Verlag, Berlin.

MB: Das Auto verspricht ja Freiheit und Individualität, also Selbstbestimmung. Erst danach kommt der Mythos des tollkühnen Fahrers. Sein Kontrollverlust über das Fahrzeug wird in unzähligen Filmen als Spektakel von Verfolgung und Crash recycelt. Das ist kulturelle Trauma-Bewältigung.

Schaden Unfälle der Automobilindustrie?
MS:
Kaum. Es geht um einen historischen Kreislauf, in dem die Automobilindustrie gelernt hat, aus dem Unfall Sicherheitstechniken zu entwickeln. Vom „Stoßfänger“ über die stabile Fahrgastzelle bis hin zu Gurt und Airbag. Nicht umsonst ist Sicherheit heute ein wichtiges Werbeargument. Der Unfall ist gleichsam der Motor der Automobilindustrie.
MB:
Das gilt vor allem für die schnellsten und teuersten Wagen. Ich sage nur: Keramikbremsen. Alle Sicherheitssysteme werden zuerst in der Luxusklasse eingeführt.

Unfälle sind in den Medien sehr beliebt – die Bilder dazu kommen aus allen Regionen der Welt.
MS:
Als tragisches Ereignis sind Autounfälle Teil unserer Kultur. Man denke nur an berühmte Opfer wie James Dean, Lady Di oder aktuell Paul Walker. Allerdings repräsentieren diese Nachrichten und Bilder keineswegs das, was offiziell „Verkehrsgeschehen“ heißt.
MB:
Ob „Schockbilder“ Autofahrer zur Vorsicht anhalten, ist eine alte, immer wiederkehrende Diskussion, also ein weiterer Kreislauf. Einerseits steht da der öffentliche Unfall und seine Bilder, andererseits steht das Paradox, dass wir uns alle dennoch während der täglichen Fahrt einigermaßen sicher fühlen.

Sicherheit wird sehr hoch gehängt. Neben der „passiven“ gibt es mittlerweile die „aktive Sicherheit“ wie den Tempomat. Ist die Entmündigung des Fahrers als „Schwachstelle des Automobilismus“ damit Programm?
MS:
Das ist vielleicht das zentrale Paradox. Der Fahrer selbst gilt seit langem als Unfallursache Nr. 1. Ein intelligentes Fahrsystem ohne Fahrer ist nur die logische Konsequenz. Das verträgt sich allerdings kaum mit den emotionalen Werten, die der Automobilismus entwickelt hat. Die Industrie versucht deshalb, die automatisierte Sicherheit suggestiv mit Komfort und einer vermeintlichen Kontrolle zu verbinden. Dabei führen sicherere Autos dazu, höhere Geschwindigkeiten zu riskieren, etwa durch ESP, was wieder neue Sicherheitstechniken hervorruft.
MB:
Der Mythos des Fahrers, der sein Vehikel beherrscht, ist dem Automobil eingeschrieben. Wenn Autos in Zukunft ihre Geschwindigkeit automatisch an Witterungsbedingungen und Straßenverhältnisse anpassen würden, ohne dass man eingreifen kann – würde das vom Konsumenten toleriert? In den Werbetexten der Industrie kann man studieren, wie Sicherheitsversprechen einerseits den Fahrer entmündigen und zugleich mehr „Freude am Fahren“ versprochen wird.

Steht am Ende wieder die Erzählung vom Sieg der Maschine über den Menschen – das E-Mobil als neuer Souverän einer planvoll gesteuerten Mobilität?
MB:
Nein, auch das sind kollektive Wunsch- oder Albträume. In der Realität passen sich Mensch und Maschine wechselseitig an. Im Falle des Automobils verbeugt sich die Vernunft vor dem, was das Auto an Lustgewinn und am vermeintlichen Recht auf selbstbestimmte Fortbewegung in einem Jahrhundert etabliert hat.
MS:
Es bedürfte einer regelrechten Revolution, um dieses Prinzip abzulösen. E-Mobilität verspricht zwar eine ökologischere Zukunft. Aber damit wird weder der Unfall noch der Stau bei Seite geschafft. E-Mobile sind zum Beispiel zu leise, um als Gefahr wahrgenommen zu werden. Stau und Unfall haben Zukunft.

Wolfgang Hippe

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