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„Dogville"
Foto: David Baltzer

Moralischer Verfall aus der Vogelperspektive

25. September 2014

Bastian Kraft inszeniert Lars von Triers „Dogville" am Schauspiel Köln – Auftritt 10/14

Traditionelle Gemeinschaften gibt es eigentlich nicht mehr. Die Entwicklung von Transport- und Kommunikationsmitteln waren ihr Tod. Wer Gemeinschaft in seiner ursprünglichen Form wiederhaben will, sollte sich von Werten wie Freiheit oder Individualität lieber verabschieden. „Einer echten Gemeinschaft", schreibt der Soziologe Zygmunt Baumann, „fehlt jedes Bedürfnis nach Reflexion, Kritik und Experimenten." Das gilt exakt für das Dörfchen Dogville, in dem es nur das Telefon von Ma Ginger und den altersschwachen Truck von Ben gibt. Die Idylle, die die junge Grace hier vermutet, ist nichts anderes als die brutale Vormoderne.

Automotoren heulen auf, Schüsse knallen und eine Frau in grünem bodenlangen Paillettenkleid und Pelzmantel stürzt auf die Bühne. Auf ein Versteck hoffend. Katharina Schmalenberg als Grace ist weder mildtätig, noch gnadenreich, wie ihr Name vermuten ließe. Sie ist auf der Flucht vor ihrem Vater und dessen mafiöser Gang und findet Obdach. In Dogville. Ihre anfängliche Wertschätzung der Dorfbewohner wirkt vernünftig und abgeklärt. Idealismus und Pathos sind ihr fremd.

Zwei Wochen darf sie auf Vermittlung des Intellektuellen und literarischen Versagers Tom, der Gedanken-Experimente liebt, im Dorf bleiben. Grace macht sich nützlich, schuftet für alle. Doch je intensiver Polizei und Gangster nach ihr suchen, je mehr steigt der Druck im Dorf. Die Nützliche wird zur Ausgenutzten, wird vergewaltigt, geschlagen, verleumdet, gequält. Dass sie diese Schikanen überhaupt erträgt, hat in Köln allerdings nichts mit Demut zu tun, sondern mit einer Form des Stoizismus. Nicht umsonst hat Grace zuvor Chucks Frau Vera diese griechische Denkrichtung erklärt. Und es ist diese emotionale Kühle, die am Ende auch das Strafgericht in Gang setzt. Es gehört zum Witz von Bastian Krafts Inszenierung, dass gerade die Auseinandersetzung zwischen Tochter und Vater eine der emotionalsten ist. Martin Reinke sitzt mit Schlapphut und Sonnenbrille im Zuschauerraum, Katharina Schmalenberg drängt sich durch die Reihen (die Mafiosi sind wir Kölner!) und dann streiten die beiden ganz familiär über Arroganz, Macht und Moral. Am Ende lässt sie alle Dorfbewohner abknallen, ihren beflissenen und ethisch labilen Liebhaber Tom (Gerrit Jansen) streckt sie selbst nieder.

Lars von Triers Film „Dogville" wurde, weil und obwohl er mit demonstrativ epischem Gestus diese Seeräuber-Jenny-Geschichte erzählt, zum großen Bühnenrenner. Bastian Kraft inszeniert allerdings weniger das epische Theaterstück, auch wenn er Guido Lambrecht als Erzähler an einen Tisch setzt, ein gewaltiges Buch aufschlagen und ihn als Polizist oder Gangster gelegentlich in die Geschichte eingreifen lässt. Er inszeniert auch nicht den Film. Über dem Spielpodest schwebt zwar eine schräge Spiegelwand, auf die Bilder von zwei Livekameras projiziert werden (Bühne und Video: Peter Baur).

Doch wo der Film ein Zwangsregime des imaginierten Blickraums eröffnet, setzt man in Köln auf Multiperspektivität. Oft sind die Figuren aus der Vogelperspektive, in Großaufnahme und in ihrer Bühnenpräsenz zugleich zu sehen. Die mittlere Distanz der Bühne wird durch die Nah- und Fernsicht ergänzt. Eine gelegentlich sich bis ins abstrakt Geometrische überlagernde Mischung der Blicke, deren Ziel die detaillierte Analyse ist. Nah kommen einem weder der Apfelpflücker Chuck (Nikolaus Benda) noch die eisige Ma Ginger (Susanne Barth) oder sonst eine Figur aus dem Ensemble. Ihre moralische Selbstgerechtigkeit, ihre kalte Prüderie, die Effizienz ihrer Gier wird mit dem Sezierbesteck auseinandergelegt und als Nährboden der Sklaverei entlarvt: Grace ist an einen Reifen angekettet, den sie hinter sich herziehen muss. Dass das Dorf am Ende wie in Richard Oelzes Gemälde „Die Erwartung" von 1935 die Gangster herbeisehnt, ist vielsagend genug. Zuteil wird ihnen allerdings nur die brutale, moralisch fragwürdige Selbstjustiz ihres Opfers. Ergreifend ist dieser Abend nicht, soll er auch nicht sein – trotzdem einer der besseren der Intendanz Bachmann.

„Dogville" | R: Bastian Kraft | 4.10., 21.10., 24.10. 19.30 Uhr | Schauspiel Köln | 0221 221 284 00

HANS-CHRISTOPH ZIMMERMANN

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