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Regina Schilling (r.) und Adriana Altaras (2.v.l.) mit Crew und Protagonisten
Foto: Zero One Film

„Man muss bereit sein, seinen Plan wieder zu verwerfen“

27. November 2014

Regina Schilling über „Titos Brille", Formfragen und das Abenteuer Dokumentarfilm – Gespräch zum Film 12/14

Regina Schilling (*1962) hat in Köln Literaturwissenschaft und Pädagogik studiert. Seit 1997 arbeitet sie als Journalistin, Jugendbuchautorin und Dokumentarfilmerin. Sie ist außerdem Programmmacherin der lit.Cologne. Nach einer Doku über den Schauspieler Josef Bierbichler und „Geschlossene Gesellschaft – Der Missbrauch an der Odenwaldschule“ ist „Titos Brille“ ihr dritter Kinofilm.

choices: Kannten Sie Adriana Altaras Buch „Titos Brille“ über ihre

Familiengeschichte, bevor Sie mit dem Filmprojekt in Berührung kamen?

Regina Schilling: Das ist eine ganz besondere Geschichte: Ich kenne Adriana Altaras seit über zwanzig Jahren. Sie ist eine sehr gute Freundin von mir und ich habe ihr immer wieder gesagt: „Du musst deine Geschichte aufschreiben“. Ich wollte schon vor 15 Jahren einen Film über ihre Familiengeschichte machen, aber die Zeit war anscheinend noch nicht reif. Lustigerweise hatte ich dann fast wieder vergessen, dass ich mal einen Film über sie machen wollte. Als sie schließlich das Manuskript für ihr Buch abgegeben hatte, dachte ich: Wenn sie dabei ist, wird das mein nächster Film! Dass wir den dann als Kinofilm machen konnten, hatte sicher damit zu tun, dass das Buch so ein großer Erfolg war. Insofern war der Zeitpunkt jetzt günstig.

Die spezielle Erzählsituation des Buches konnte man schlecht nachträglich verfilmen. „Titos Brille“ ist dann auch trotz des identischen Titels keine Buchverfilmung. Wie kamen sie auf ihren Ansatz, die Reise in die Vergangenheit als Reise wörtlich zu nehmen?

Wir hatten immer wieder gesagt, wir fahren mal auf den Spuren ihrer Eltern zusammen nach Kroatien. Dieses Konzentrationslager in Rab, das am Ende des Films vorkommt, ist ein Ort, an den sie eigentlich nicht wollte – in meiner Begleitung aber irgendwie doch. Die filmische Idee war dann ganz klar das Roadmovie. Auch psychologisch dachte ich – Adriana ist ja sehr quirlig – ist es wichtig, sie mal aus dem Alltag zu holen. Wenn man sich ins Auto setzt und losfährt, dann entsteht eine andere Konzentration, auch emotional. Es ist also ein filmischer wie auch ein psychologischer Ansatz, dass die Reise tatsächlich so stattgefunden hat. Das war dann natürlich sehr anstrengend … (lacht).

Es ist eine bewusste Entscheidung, die Erzählerin Adriana Altaras im Film auch als Protagonistin im Bild, sozusagen als Reiseleiterin in Erscheinung treten zu lassen. War das von Anfang so geplant?

Es wäre ein Unding gewesen, Adrianas Kamerapräsenz zu verschenken. Es ist ja genau diese Art, die – so hoffe ich doch – sich jetzt auch im Film findet, die ihrem Buch zu so einem Erfolg verholfen hat: diese Spontaneität, diese Schnelligkeit, die Schlagfertigkeit, der Witz, aber auch das Analytische. Das war gar nicht vorstellbar, den Film zu machen, ohne dass sie vor der Kamera agiert.

Sie ist der eindeutige Bezugspunkt für den Zuschauer. Es gibt aber eine Szene, in der ein Gegenüber nicht zu ihr, sondern in die Kamera spricht ...

Das war tatsächlich eine formale Schwierigkeit. Ich habe da eigentlich kein Dogma – in meinen Filmen sind zum Beispiel auch oft meine Interviewfragen zu hören. Aber hier nimmt Adriana die Zuschauer mit auf eine Reise, und ich fand es wichtig, dass diese Haltung durchgehalten wird. In der besagten Szene sagt die Tante, dass man ihr in Kroatien so viel angetan hat, dass sie nicht dahin zurückgehen möchte. Adriana hingegen geht auch stellvertretend für ihre Tante auf diese Reise. Das fand ich so wichtig, dass ich diese Irritation in Kauf genommen habe. Eigentlich weiß man ja auch, dass ich irgendwo hinter der Kamera bin. Vielleicht ist das unser kleiner Hitchcock-Moment … (lacht).


Durch Altaras war der heitere, aber auch derbe Tonfall vorgegeben. Wie haben sie sich filmisch darauf eingestellt?

Mein Prinzip ist, die Form folgt dem Inhalt. „Titos Brille“ hat ein hohes Tempo. Der Zuschauer hat eigentlich kaum Zeit, alles zu verdauen, was er da hört und sieht. Es geht ja immer weiter auf der Reise. Genau das ist Adriana! Ich habe versucht, mit der Machart des Films der Persönlichkeit von Adriana gerecht zu werden.


War es von Vorteil, dass sie von Beruf Schauspielerin ist oder stand ihre Professionalität dem Dokumentarischen mitunter im Weg? War zum Beispiel ihr Text geschrieben oder improvisiert?

Meine größte Sorge war tatsächlich, dass Adriana vielleicht nicht authentisch ist, sondern vor der Kamera anfängt zu spielen. Das ist aber nicht passiert. Das hat sicher auch damit zu tun, dass wir uns so gut kennen. Und in den Szenen ist nichts inszeniert oder geschrieben, Adriana ist einfach so spontan. Ich kann nur sagen: Sie ist im wahren Leben genau so wie im Film.

Wie haben sie als Filmteam gearbeitet?

Wir hatten ein sehr kleines Team. Ich arbeite sehr gerne so, das ist ein Abenteuer, schnell zu reagieren. Man hat einen Plan, man hat ein Konzept, aber wenn es dann losgeht, passieren doch immer andere Dinge. Man braucht den Plan, muss aber jederzeit bereit sein, ihn wieder zu verwerfen. Ich hoffe, das Authentische und Spontane vermittelt sich. Das ist ja auch das Spannende.


Wie finden Sie Ihre Themen für die Filme?

Man kann sagen, die Themen finden mich. In irgendeiner Weise muss das Thema mit einem selbst zu tun haben, damit man sich damit über eine so lange Zeit beschäftigt. Meine Generation hat ja stellvertretend für die Eltern oder Großeltern ein großes Schuldgefühl mit sich herumgetragen. Es war für mich befreiend zu erleben, wie Adriana damit umgeht. Vielleicht wollte ich das mit dem Film ein wenig weitergeben. In den Reaktionen auf Festivals habe ich auch von Jüngeren mitbekommen, dass sie es als befreiend empfunden haben, wie Adriana mit dem Thema Jüdisch-Sein in Deutschland umgeht, ohne es zu verharmlosen. Ein anderes zentrales Motiv sind die Dibbuks, die Geister der Toten. Wir kennen das ja alle, wie die Eltern in uns herum spuken und uns irgendwelche Aufträge geben, die wir immer noch meinen, erfüllen zu müssen. Das ist auch ein Thema, bei dem ich hoffe, dass sich viele Zuschauer darin wiederfinden.

INTERVIEW: CHRISTIAN MEYER

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