Die bürgerliche Ehe wäre eine schöne Sache, wenn sie sich auf das beschränken würde, was sie eigentlich ist: Ein rechtsgültiger Vertrag, den man schließen und auch wieder kündigen kann. Erst die Überfrachtung mit romantischem Liebesüberbau und gesellschaftlichem Erwartungshorizont macht die Sache wirklich kompliziert. Für den jungen Geisteswissenschaftler Johannes Vockerat in Gerhart Hauptmanns „Einsame Menschen" schwenkt das Leben gerade in die Umlaufbahn einer bürgerlichen Normalnull ein. Ehe geschlossen, erstes Kind da, Mutter einigermaßen wohlauf. So könnte es weitergehen. Doch schon die Doktorarbeit macht dem Junggelehrten Mühe. Und dann kreuzt auch noch die russisch-estnische Studentin Anna auf. Der Gelehrte und die Studentin – das war offenbar schon zu Hauptmanns Zeiten ein beliebter schwüler Topos. Die beiden kommunizieren „auf Augenhöhe", wie das heute heißen würde. Der erotische und geistige Funkenflug ist heftig, die beiden gestehen sich ihre Liebe, während über die Ehe ein schweres Gewitter hinwegzieht: Ehefrau Käthe leidet gattinnengemäß still vor sich hin. An der heute etwas angestaubten Bigotterie von Johannes' Eltern liegt es jedenfalls nicht, dass am Ende dann doch, wie auch heute noch, die bürgerliche Moral siegt. Johannes allerdings rudert schließlich verzweifelt raus auf den Müggelsee – vermutlich um mal die Wassertiefe zu testen. Catharina Fillers macht im Theater im Bauturm den Test auf die Haltbarkeit von Ehe- und Liebesversprechen.
Mit solchen Versprechungen will sich die junge Leila in Azar Mortazavis Stück „Ich wünsch mir eins" gar nicht groß aufhalten. Die junge arabischstämmige Frau reißt sich den Säufer und „alten Sack" George unter den Nagel und will von ihm ein Kind. Sie gehen miteinander ins Bett, sie kümmert sich um ihn, er demütigt und schlägt sie. Warum tut sie sich das an? Leila sucht Halt, probiert Familienformen aus, das Kind könnte helfen. Ihr eigener arabischer Vater hatte bereits früh die Familie im Stich gelassen, deshalb verklärt sie ihn. Dann lernt sie in der Nachbarschaft die als alleinerziehende Mutter völlig überforderte Sibylle kennen und kümmert sich um deren kleinen Jungen, der sich überraschenderweise als ihr Halbbruder herausstellt: Leilas Vater hatte offenbar Sibylle geschwängert, bevor er in den Knast einfuhr. Von dort kommt er jetzt direkt auf die Theaterbühne zurück – Staat ist allerdings auch mit ihm nicht zu machen. Doch anstatt an dem schlagenden George zu zerbrechen oder an der Enttäuschung über den eigenen Vater zu verzweifeln, rappelt sich Leila auf und macht sich wieder auf die Suche. Tapfer und alleine – und mit einem starken Willen. Sandra Reitmayer, die für ihre Inszenierung von Mike Kellys „Waisen" mit dem Kölner Theaterpreis 2013 ausgezeichnet wurde, inszeniert am Theater der Keller.
„Einsame Menschen" | R: Catharina Fillers | 21.2.15(P) 20 Uhr | Theater im Bauturm | 0221 52 42 42
„Ich wünsch mir eins" | R: Sandra Reitmayer | 28.11.(P) 20 Uhr | Theater der Keller | 0228 31 80 59
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