Die UDJ, die Union Deutscher Jazzmusiker, tagte die Tage im Kölner Stadtgarten mit der bangen Frage: „Wie kann der Jazz heute sein Publikum finden und binden?“ Eigentlich weht der Wind für die kreativen Live-Musiker momentan ganz gut, die Leute besuchen regelmäßig Konzerte; Shows und Filmchen bieten wohl doch keinen Ersatz für ein echtes Event. Bliebe da noch die bittere Wahrheit, dass die meisten Musikfreunde nur bei Großevents richtig in die Tasche greifen, bei Clubkonzerten am liebsten die Musiker für Lau oder Peanuts hören wollen. Der UDJ diskutierte deshalb viel über Rechte, Versicherung und Mindest-Gage für Musiker, aber auch die ewigen Fragen des Jazz wurden nicht ausgespart. So lautete ein Vortragsthema beim Treffen: „Wie kommt die Emotion in die Schallwelle?“
Das erinnerte mich an die just vernommene unbändige Leidenschaft des norwegischen Saxophonisten Marius Neset, dessen Emotionen beinahe in Verzweiflung münden, bei dem sich Urkräfte entfesseln und dessen selbst komponierte Stücke letztlich immer in Kraftausbrüche münden. Damit er diese Gewalt und störrische Beharrlichkeit auch instrumentieren kann, schreibt der 1986 geborene Norweger für das Trondheim Jazz Orchestra, eine Big Band aus jungen Musikern, die alle das zeitgenössische Vokabular ihrer Instrumente als Alltäglichkeit empfinden und einsetzen können. Deshalb klingt dieses Orchester bei Bedarf so schroff und anders wie die Kraterlandschaften auf einem getropften Ölbild von Jackson „The Dripper“ Pollock. Allerdings sitzt dieser kompositorische Griff völlig sicher in einer nachvollziehbar strukturierten musikalischen Form, taucht immer wieder auf, wird etabliert und beheimatet – Neset erzählt Geschichten. Kein Haken scheint in seinen Werken unmöglich, Langeweile keimt niemals auf, aber man muss am Ohr bleiben – die Musik fordert den Hörer.
Django Bates, das britische Enfant terrible der Improvisierten Musik, war Nesets Lehrer und 2011 sogar als Keyboarder auf der ersten CD des Saxophonisten zu hören. Stilsicherheit, Originalität und einen eisernen Qualitätsanspruch könnte Neset von diesem großartigen Musiker geerbt haben, der seit Jahren am Rytmisk Musikkonservatorium in Kopenhagen den Jazz lehrt. Seine schrägen Big-Band-Sounds in den 80igern waren vielleicht noch zu futuristisch und abschreckend, Nesets Werke sind deutlich auf der Höhe unserer Tage. Hier klingen zwanzig Jahre neueste gelebte Musikgeschichte, eingearbeitet in aktuellen Ensemble-Sound mit Blicken über alle stilistischen Möglichkeiten zwischen Walzer und Punk. „Lion“ heißt das Album, und der junge Löwe schreit wirklich imposant.
CD / Doppel-LP „Lion“ von Marius Neset | www.mariusneset.info
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Besuch von der Insel
„Paul Heller invites Gary Husband“ im Stadtgarten – Improvisierte Musik in NRW 04/24
Pure Lust an der Musik
Das Thomas Quasthoff Quartett im Konzerthaus Dortmund – Improvisierte Musik in NRW 03/24
Kleinstes Orchester der Welt
„Solace“ in der Friedenskirche Ratingen – Improvisierte Musik in NRW 02/24
Mit zwei Krachern ins neue Jahr
Jesse Davis Quartet und European All Stars in Köln – Improvisierte Musik in NRW 01/24
Sturmhaube und Ballonmütze
Gregory Porter in Düsseldorf – Improvisierte Musik in NRW 12/23
Balladen für den Herbst
Caris Hermes Quintett in Düsseldorf – Improvisierte Musik in NRW 11/23
Wonnemonat für Fusionfans
Drei E-Gitarren erobern das Ruhrgebiet – Improvisierte Musik in NRW 10/23
Funk und Soul mit fetten Sounds
„Tribute To Curtis Mayfield“ in der Kölner Philharmonie – Improvisierte Musik in NRW 09/23
Das Trommel mal ganz vorne
„Schlagzeugmarathon“ in Essen – Improvisierte Musik in NRW 08/23
Bird with Strings
Karolina Strassmayer in Essen – Improvisierte Musik in NRW 07/23
Tüchtige Kellerkinder
Subway Jazz Orchestra feiert zehnten Geburtstag – Improvisierte Musik in NRW 06/23
John Scofield allein zu Haus
Der große Gitarrist in Oberhausen – Improvisierte Musik in NRW 05/23
David Murray auf Hochtouren
„International Jazz Day“ auf Burg Linn – Improvisierte Musik in NRW 04/23
Es klingelt das Vibraphon
Wolfgang Lackerschmid im Jazzkeller Krefeld – Improvisierte Musik in NRW 03/23
Sisters in Jazz
Cæcilie Norby und Band in Bad Hamm – Improvisierte Musik in NRW 02/23
Je bunter, umso besser
„Die Verwandlung“ in Wuppertal, Köln und Düsseldorf – Improvisierte Musik in NRW 01/23
Den Eisbär im Programm
JugendJazzOrchester NRW im Stadtgarten Köln – Improvisierte Musik in NRW 12/22
Ein Klangträumer an den Tasten
Michael Wollny Trio in Düsseldorf und Dortmund – Improvisierte Musik in NRW 11/22
Unglaubliche Rhythmusmaschine
„A Moodswing Reunion“ in Köln und Essen – Improvisierte Musik in NRW 10/22
Schönheit und Wahrheit
Joachim Kühn trauert um Bruder Rolf – Improvisierte Musik in NRW 09/22
Bloß kein Klangmuseum
„Cologne Jazzweek“ erobert die Domstadt – Improvisierte Musik in NRW 08/22
Wirbelsturm am Flügel
Hiromi in der Philharmonie Essen – Improvisierte Musik in NRW 07/22
Spezialist am Flügelhorn
Paolo Fresu in der Friedenskirche Ratingen – Improvisierte Musik in NRW 06/22
Einzigartige belgische Spezialität
Metropole Orkest mit „Toots 100“ in Essen – Improvisierte Musik in NRW 05/22
Balladesker Schönton
Nils Wülker mit neuer CD in Monheim am Rhein – Improvisierte Musik in NRW 04/22